GUTE STANDARDS – BÖSE STANDARDS
Können Standards blockieren und hemmen?
Ich habe mir diese Frage gestellt, weil Standards bisher dazu beigetragen haben, dass Menschen sich gemeinsam orientieren können. Eine Zahl (Controlling), ein Vorgehen (Abläufe), Eskalationen (Hierarchie), … sind beschrieben und vereinbart und mussten nicht immer wieder neu verhandelt und besprochen werden. Das war und ist jedoch eine Zeit der Zahlen, Umsätze und Gewinne, wo der Faktor Mensch eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt eine Rolle spielt. Eine Zeit in der Emotionalität und Empathie zum Thema werden, wenn der Umsatz bedroht ist. Immer häufiger beobachte ich, dass feste Standards ein leichtes Zusammenarbeiten und unkompliziertes Lösen von Problemsituationen behindern und manchmal sogar verhindern.
Das Wörterbuch beschreibt Standard:
„Standard“, Substantiv, maskulin; etwas, was als mustergültig, modellhaft angesehen wird und wonach sich anderes richtet; Richtschnur, Maßstab, Norm, Wertmesser, Richtschnur, Prinzip, Grad, Rang, …
Situation 1:
Ich bin mit einem Kunden in Verhandlung zu einem Stundensatz. Ich kenne den Kunden seit vielen Jahren und er kennt mich auch. Er hat sich an mich gewandt, er will eine Leistung von mir. Ich habe Lust auf die Zusammenarbeit und bin unter anderem von der Leichtigkeit und Klarheit während der Auftragsverhandlung begeistert. Ideen sprudeln, Passung von Angebot und Wirksamkeit erfolgt, wir sind uns einig; fast. Jetzt kommt die Abteilung „Einkauf“ ins Spiel. Sie hat einen Standard; jedes Angebot muss runtergehandelt werden. Mein Spirit beginnt zu schrumpfen. Inhalte, Methoden und Qualitäten zählen nicht mehr. Der Basar der Zahlen geht los, wo Inhalte nicht mehr zählen. Ohne einen Grund bzw. Hintergrund zu kennen, beginnt die Zahlenverhandlung mit 13% weniger als mein Angebot und endet mit 1%. Es kostet mich Zeit und Nerven und lenkt meine Aufmerksamkeit vom Wollen und Können, vom Sinn ab. Auch ein Warum wird mir nicht deutlich.
Der Standard „runterhandeln“ bezieht sich ausschließlich auf einen Zahlenwert. Hier geht es nicht um die Wertigkeit einer Tätigkeit und auch nicht um die Wertigkeit des Leistungserbringers, des Menschen und seiner Fähigkeit am menschlichen Erfolg beizutragen. Ein imaginärer Gewinn bzw. eine Optimierung des Zahlenwertes einer Seite kann nicht mehr auf Augenhöhe verhandelt werden.
Auf orientalischen Basaren ist das Feilschen ausdrücklich erwünscht. Hier kann der Mensch in seinem Produktionsvorgang erlebt werden; seine Persönlichkeit, seine Verbundenheit zu Produkt und Herstellung und teilweise auch zur Geschichte des Produktes. Es kann erlebt werden, dass das was getan wird geliebt wird, dass Kompetenz und Leidenschaft zusammenfließen. Genau das, lässt eine faire Verhandlung leidenschaftlich werden.
Der Standard „Runterhandeln“ an sich ist nicht böse. Das das „Runterhandeln“ nicht verbunden ist mit der menschlichen Leistung, raubt mir die Heiterkeit und lebendige Energie. Wenn ich mir vorstelle, dass ich meine Leistung mit meinem wahren „Kunden“ verhandle, der miterleben kann, was in meiner Leistung drinsteckt, wie sie entsteht und was sie bei ihm auslöst, stimmt mich das wiederum heiter.
Situation 2:
Eine soziale Einrichtung arbeitet mit Mitarbeiter*innen, die unterqualifiziert sind. Wenige haben eine angemessene Ausbildung und innere Haltung, mit der sie die Dynamik im Klienten- und Mitarbeiter*nnensystem erfassen und veränderungsorientiert intervenieren können. Ein informeller Standard heißt; die Schwachen müssen vor den Starken geschützt werden. Und es kommt zur Kündigung einer stigmatisierten „Starken“, die seit 15 Jahren die Einrichtung mit aufgebaut, die meisten Instrumente entwickelt, eingeführt und angewandt hat. Die Begründung heißt; Störung des betrieblichen Friedens. Diese „Starke“, heißt es, ist zu direkt, sie stört. Ihre Aussagen, Methoden, Instrumente und Interventionen sind passend und werden auch regelmäßig nachgefragt aber die Geschäftsführung fühlt sich in der eigenen Fachlichkeit und in der Steuerung des Teams überfordert und setzt den Standard -„Schwache“ müssen vor den „Starken“ beschützt werden- um und feuert die „Starke“.
Was bedeutet eigentlich „schwach“? – Keine hohe Konzentration aufweisend, wenig gehaltvoll (Kaffee); dünn, nicht stabil, nicht fest, keine große Belastbarkeit aufweisend (schwache Bretter); nicht sehr leistungsfähig, anfällig, nicht widerstandsfähig (schwaches Herz); eine oder nur geringe Kraft besitzend, von mangelnder Kraft (abgemagerter, schwacher Mensch), … (Wörterbuch)
Was bedeutet eigentlich „stark“? – viel Kraft besitzend, sehr leistungsfähig, widerstandsfähig; stabil, fest und daher sehr belastbar; eine hohe Konzentration aufweisend, sehr gehaltvoll, -reich; hohe Leistung bringend, einen hohen Grad an Wirksamkeit besitzend, leistungsstark; gute Leistungen erbringend, tüchtig; als Ergebnis einer geistigen oder körperlichen Leistung; ausgezeichnet; sehr ausgeprägt, in hohem Maße vorhanden; auf Grund hoher Nachfrage: teuer; jemanden tief beeindruckend, …. (Wörterbuch)
Komisch? Wieso wird sie gefeuert? Kann etwas Starkes überfordern?
Ja, ich glaube schon. Wenn Stärke nicht gewollt ist, wenn Reflexion und Veränderung nicht gewollt ist, wenn gegen Stärke aus welchen Gründen auch immer gekämpft wird, wenn individuelle Eigeninteressen im Vordergrund stehen, wenn Stärke und Schwäche nicht mit einander in einen Dialog gehen sollen/ dürfen/ können, wenn Top-Down Ideen steuern, wenn alles so bleiben soll wie es ist …
Der Standard „Schwache schütze und Starke feuern“ – Wenn dieser Standard dazu führt, dass Starke gefeuert werden, um Schwache zu schützen, nimmt er die Möglichkeit zum Lernen. Es wird für das Schwache in die Stagnation führen, weil unter anderem die Impulse für ein komplexes Wahrnehmen und Denken fehlen. Der Verlust an Kompetenz und Know-How ist grundsätzlich nicht böse. Er fördert das Banale, das Einfalls- und Ideenlose und verhindert neuen Schwung in den Denk- und Handlungssystemen… und das in einer gegenwärtigen VUCA Welt. Das ist gefährlich, nicht nur für das Schwache.
Situation 3:
Eine Kundin eines Telekommunikationsunternehmens hat ein Problem mit ihrem Kommunikationssystem. Sie ruft den Support an. Hier sitzt ein engagierter Herr und beide können das Problem schnell lösen. Der fachkundige und zugewandte, mit den Schwächen der Kundin umgehende Herr kann in den Zwischenzeilen sogar mit der Kundin scherzen. Die Kundin ist froh, auf diese unkomplizierte, lockere Art ihr Technikproblem gelöst zu bekommen. Und jetzt kommt der Standard; ein sich anschließendes Verkaufsgespräch. „Sie haben doch eine sehr alte Leitung und wir bieten ihnen an, für erst einmal 5,00€ weniger und nach x Monaten dann 5,00€ mehr, ihren Vertrag umzustellen.“ Die Kundin muss laut lachen. Sie ist irritiert; „Was hat dieses Verkaufsgespräch mit der Behebung meines Problems zu tun?“. Der kompetente Herr tut ihr auch ein wenig leid; „Der muss nach einer so unkomplizierten Problemlösung jetzt auch noch was verkaufen. Das passt doch jetzt gar nicht zusammen.“. Wie muss er sich jetzt, wo die Kundin lachen muss und ihm einen Korb gibt wohl fühlen, nachdem er seine Arbeit „zur vollsten Zufriedenheit“ gemacht hatte?
Es sieht nach einer aufgesetzten Zwangshandlung aus. Egal, ob gewollt oder nicht gewollt, das Verkaufsgespräch muss nach jedem Kundenkontakt geführt werden. Egal, ob es sinnvoll ist, egal, ob es das was zuvor an Beziehungsqualität aufgebaut wurde wieder zunichte macht, egal, ob die Kundin kopfschüttelnd auflegt und den Dienstleister nicht mehr ernst nimmt und egal, ob sich die Kundin in einer nächsten Situation einem anderen Dienstleister zuwendet; der Standard Verkaufsgespräch MUSS sich anschließen. Wie anstrengend muss das für den Mitarbeiter des zwanghaften Dienstleisters sein?
Ich will hier kein Mitleid aufkommen lassen. Dann würden wir uns gemeinsam im Schmerzzentrum unseres Hirns wiederfinden. Mitgefühl wäre nicht ganz verkehrt. Und von dort kommen auch diese Zeilen.
Alles, was zwingt blockiert den gesunden Fluss, die ganz natürliche Immunabwehr. Alles, was zwingt bindet Energie, die für Neues und Anderes nicht zur Verfügung steht. Es blockiert ein leichtes Bewegen der sich immer wieder verändernden Situationen.
Der Standard „Verkaufsgespräch nach erfolgter Dienstleistung“ ist nicht böse. Er blockiert und macht in dem einen oder anderen Fall böse.
Mein Fazit:
Standards für sich können nicht gut oder böse sein. Der Mensch entwickelt sie, um Orientierung zu ermöglichen. Entscheidend ist die Richtung. Wem oder was dient der Standard? Hat er den Sinn, Menschen das eigene Denken abzunehmen oder fordert er sie zum selbstständigen Denken und Handeln heraus? Verfolgt er vorrangig den Zweck der Optimierung eines Zahlenwertes? Oder macht er Sinn in Richtung Kontakt und Auseinandersetzung zwischen Menschen, Ideen und Handlungen? Verfolgt er vorrangig den Zweck des gemeinsamen Lernens und Lebens? Ist ein Standard veränderbar und beweglich?
Und: Unterstützt ein Standard handelnde Menschen im Lust- oder Frustbereich?
Für mich sind das wunderbare Fragen. Ich werde noch mehr auf den Menschen schauen, als mich zwanghaft an überholte Standards zu halten. Auch wenn dieser Standard bestimmt auch einen wenn auch kleinen Frustbereich beinhalten wird; der Lustbereich ist für mich größer.